„Die Zeitlichkeit des Digitalen ist die des Untoten.“ – Drei kulturelle Einflüsse auf das Führungsgeschäft: Der Zwang, der Schock und der Dataismus

Zu Byung-Chul Han. Psychopolitik; Neoliberalismus und die neuen Machttechniken
(S. Fischer V.; 5. Auflage von 2004)

Einleitung

Im Nachstehenden habe ich einmal teilweise zusammengefasst, was der Philosoph Byung-Chul Han, ein Sloterdijk-Schüler, in seinem Buch „Psychopolitik“ darstellt. Ich möchte allen die Bücher von Byung-Chul Han ans Herz legen! Insbesondere die drei Bände „Müdigkeitsgesellschaft“, „Die Austreibung des Anderen“ und „Psychopolitik“.

Mit meiner kleinen Zusammenfassung will ich hilfreich für Führungskräfte sein, indem ich auf besondere kulturelle Fragestellungen hinweise. Ein Tipp ganz vorab: „Kinders, ihr möht jätt mie Verzäll maache!“

Einflüsse auf das Führen

In der heutigen Lage droht uns Menschen Dreierlei. Der Zwang, der Schock und der Dataismus. Ich will zeigen, wo „Fallen für die Lebensführung“ stecken können, zeigen, wie wichtig unsere unzähligen wie unzählbaren Geschichten für das Führen und das Zusammenleben von uns allen sind und ich will auf den „Schock“ hinweisen, dem wir vielleicht alle ausgesetzt sind?

Dazu die folgenden Ausführungen.

Freiheit verkehrt sich in Zwang (1)

Han stellt die These auf, „Wir glauben heute, dass wir kein unterworfenes Subjekt, sondern ein freies, sich immer neu entwerfendes, neu erfindendes Projekt sind.“

Diese Freiheit verkehrt sich aber in Zwang! „Das Ich als Projekt, das sich von äußeren Zwängen und Fremdzwängen befreit zu haben glaubt, unterwirft sich nun inneren Zwängen und Selbstzwängen in Form von Leistungs- und Optimierungszwang.“ Han weiter: „Wir leben in einer besonderen historischen Phase, in der die Freiheit selbst Zwänge hervorruft.“

Dazu ein Zitat aus unser aller Businessalltag:

  • „Fall in love with the process of becoming the very best version of yourself.
    (Quelle: LInkeIn; 30.1.21; group lf)

Vom Standpunkt des Philosophen aus könnte man die obige Formel auch als Anleitung zum allmählichen Selbstmord ansehen. Manche Tipps können nach hinten losgehen, auch beim Führen!

Schock-Spezialisten (2)

Naomi Klein schrieb 2007 ein Buch zum Thema „Neoliberalismus“. Titel: „Die Schock-Strategie“. Ein Protagonist darin ist Doctor Schock, tatsächlich Doctor Ewen Cameron, ein Psychiater und Folterer.
Doctor Camerons „Schock-Folter-Forschung“ wurde von der CIA finanziert. Der Doctor träumte davon, das Seelische der Menschen erst durch Elektroschocks >Löschen< und dann die Menschen >neuprogrammieren< zu können.

Ein anderer Protagonist ist Milton Friedman, „der Theologe des neoliberalen Marktes“. „Für Milton Friedman ist der gesellschaftliche Schockzustand nach Katastrophen die Gelegenheit, ja, der höchste Augenblick für die neoliberale Neuprägung der Gesellschaft!“ (Han)

„Der Schock entprägt und entleert die Seele. Er macht sie wehrlos, so dass sie sich willig einer radikalen Neuprogrammierung unterwirft.“ (Han)

Bei bestehendem Interesse schauen Sie mal bei Google unter >Chicago Boys<, >Neoliberalismus<, >Milton Friedman<, >CIA<, >Chile> und >Allende/Pinochet< nach. Das ist spannend.

Achtung! Dataismus und Dataisten. Zählung ist nicht Erzählung! (3)

Das Medium der ersten Aufklärung war die Vernunft. Zahlen standen Mythen gegenüber. Die Vernunft >verdrängte< Einbildungskraft, Begehren oder Körperlichkeit. Die Dialektik der Aufklärung lässt das dann in (Zahlen-)Barbarei umschlagen, die Leben abtötet. (Letztlich ist es die Barbarei der cartesischen >Spaltung< von res cogitans und res extensa.)

Big Data soll heute, im Vollzug einer zweiten Aufklärung, das Wissen von der subjektiven Willkür befreien. Beruft sich die zweite Aufklärung auf Zahlen, Informationen und Transparenz, so wird die ihr innewohnende Dialektik in eine Barbarei der Daten umschlagen.

Jetzt muss Oscar Wilde ran, der sagte, „die Leidenschaften der meisten Menschen sind nur Zitate.“ Wir leben >In Geschichten<. Versuchen Sie einmal, einen Tag lang, keine Geschichte(n) zu erzählen. Die gesicherte Prognose besteht in Ihrem Scheitern; vermutlich nach Minuten!

Nun, Daten und Zahlen sind additiv, nicht narrativ. Sinn muss aber erzählt werden, er kann nicht gezählt werden. Zählung ist nicht Erzählung. Wilhelm Salber dazu: „Das seelische Konstruktionssystem formuliert seine Entwicklungsmöglichkeiten in „Geschichten“, Sinngestalten oder Symbolen.“ Han: „Daten füllen die Sinnleere.“ Zahlen und Daten werden sexualisiert und zum Fetisch erhoben!

Das „Quantified optimized Self“ bekommt pornographische Züge. Dataisten kopulieren mit Daten, halten Daten für sexy. Man spricht von „unerbittlich digitalen Datasexuellen“. „Der digitus nähert sich dem phallus.“ (Han)

Achtung! Untote!

Die Zeit, sie nagt an uns. Nie sehen wir sie, die Zeit. Nur ihre Wirkungen, wie das >Welken< von Blumen oder unserer Haut, den Farbwechsel der Wolken, den adipösen Bierbauch, etc. Wir erzählen und erzählen es um, unser „In der Welt sein“.

Gespeicherte Daten sind nur zählbar, nicht erzählbar! >Erinnern<, >Vergessen<, das sind Plastizitäten und keine Züge des Dataismus. „Die Zeitlichkeit des Digitalen ist die des Untoten.“

Eines legt sich doch nahe, vielleicht. Dass Geschichten mehr zählen, mehr zählen und erzählen können, als Zahlen es zu tun vermögen.

In diesem Sinne, herzlich

Olaf Lange